Schreiben ist wie Atmen
Man kann über Schule sagen, was man will. Aber ein paar nützliche Fingerzeige ist sie schon in der Lage zu geben. Mir hat sie zum Beispiel unmißverständlich klargemacht, daß ich Wörter lieber mag als Zahlen, Schreiben lieber als Reden. Hatten wir einen neuen Lehrer, war meine mündliche Note so lange mangelhaft, bis die erste Klassenarbeit geschrieben wurde. Danach war sie meist deutlich besser, ohne daß sich meine Mündliche Mitarbeit verändert hätte. Mein Schweigen wurde wohl nur anders gedeutet.
Schreiben fiel mir also nicht allzu schwer; und bei allem, was leicht erscheint und deswegen Erfolg bei geringstmöglichem Energieeinsatz verspricht, sind Menschen schnell Feuer und Flamme.
Leichter als Schreiben war nur noch das ihm sehr verwandte Lesen. Ich las und las und las das, was andere zuvor geschrieben hatte. In jeder freien Minute, im Sitzen, Stehen, Liegen, im Hellen, im Dunkeln, allein, in Gesellschaft, bei Stille oder Lärm, über und unter der Bettdecke, bis ich mir die Augen verdorben hatte und eine Brille brauchte. Was mich nicht davon abhielt weiterzulesen. Ich starb alle Langeweiletode angesichts der schulischen Pflichtlektüre, ich haßte nichts mehr, als Texte und Gedichte interpretieren zu müssen, aber ich liebte all die Heldensagen, Tierbücher und Geistergeschichten, all die Hesses, Bölls, Frischs, Enzensbergers, Christies, Kunderas, die ich freiwillig las. Besonders faszinierte mich Hemingways Roman „Fiesta“. Das Leben als Schriftsteller, das er darin skizziert, schien mir ungeheuer attraktiv. Ich sah mich an baskischen Flußufern liegen und angeln, die Rotweinflaschen zum Kühlen ins Wasser gelegt, nur mit dem Unterschied, daß meine Angelrute keinen Haken hatte. Und wenn das Geld einmal wieder ausging, dann schrieb man eben rasch ein paar Depeschen. Was für ein Traum! So wollte ich leben.
Wollte ich wirklich so leben? Nun, es gab wohl auch Gegenstimmen. Stimmen der Vernunft, des Realitätssinns, auch eine konkurrierende Faszination für Bilder, Fotos, Filme und Musik.
All dies unter einen Hut zu bringen und Film zu studieren, war sicher eine geniale Idee. Die aber in bezug auf das Schreiben auch zum genialen Scheitern führte: Briefe oder Gedichte schrieb ich nach wie vor sehr gerne, aber eine lange, dramatische Geschichte zu konstruieren, das, so mußte ich mir eingestehen, war nicht mein Ding, dazu hatte ich nicht den notwendigen langen Atem. Und es war gleich, ob das an einer generellen Unfähigkeit lag, oder einer grundsätzlichen Abneigung gegen dramatische Verwicklungen.
Also wurde ich kein Drehbuchautor, von kurzen Filmkonzepten abgesehen. Und noch weniger ein Schriftsteller. Zudem mußte ich mitansehen, wie das Lesen und Schreiben fortan in der Gesellschaft mehr und mehr Ansehen verloren.
Es wurde immer weniger gelesen, immer weniger geschrieben. Niemand hatte mehr Zeit, Briefe zu schreiben, Postkarten aus dem Urlaub kamen außer Mode, ja, nicht einmal vor E-Mails machte die Entwicklung Halt. Stattdessen werden Videos geschaut und Handyfotos verschickt. Piktogramme und Hörbücher (immerhin!) boomen, hektisch ohne Rechtschreibung und Satzzeichen getippte Kurznachrichten sind immer noch zu arbeitsaufwendig und werden durch hektisch ins Mikrofon gehechelte Sprachnachrichten ersetzt. Und da kaum noch jemand die deutsche Sprache fehlerfrei anwenden konnte, wurde sie kurzerhand einer mehr als zweifelhaften Reform unterzogen. Neuerdings läßt man Texte schreiben. Von sogenannter Künstlicher Intelligenz. Kein Wunder, daß die Lese- und Schreibfertigkeiten der Schulkinder immer dramatischer abnehmen.
In so einem Klima träumt kaum noch jemand davon, Schriftsteller zu werden. In so einem Klima gerät das Schreiben samt allem, was es bedeuten könnte, in Vergessenheit.
Vor ungefähr zwei Jahren begannen sich meine Atemwege langsam zuzusetzen. Ohne irgendeinen erkennbaren Grund, ohne Infektion. Chronisches Husten und nächtlicher Nasensprayeinsatz waren die Folge. Und ein hartnäckiger Frosch im Hals, der sich niemals wegschlucken ließ. Vor ein paar Monaten wachte ich nachts auf und bekam kaum noch Luft. Weder das Öffnen der Fenster noch ein nächtlicher Spaziergang konnten der wachsenden Enge und Panik entgegenwirken. Das ganze wiederholte sich vor kurzem.
Und da wußte ich plötzlich: Mir fehlt das Schreiben. Schreiben ist wie Reden, nur sorgsamer und bedachter. Schreiben ist wie Atmen. Wenn ich schreibe, werde ich ganz ruhig und tauche gewissermaßen zur Basis des Seins. Die Zeit bleibt stehen. Gedanken einatmen, ordnen, ausschreiben. Einatmen, ordnen, ausschreiben. Vor allem das Ordnen und Ausschreiben fehlte in meinem Leben. Und an all den eingeatmeten Gedanken ohne Ordnung und Ausdruck drohte ich zu ersticken.
Spricht man mit jemandem, passiert das selten ohne eine unterliegende Hektik. Zuhören, gleichzeitig überlegen, was man antworten könnte, oft zu wenig Zeit zum Nachdenken oder In-sich-hineinspüren, bevor man spricht. Die Reaktionen geraten schnell reflexhaft und stereotyp. Viel Unausgegorenes, Unbedachtes kommt dabei heraus.
Schreibe ich einen Brief, bin ich in Gedanken ganz bei Adressat oder Adressatin. Ich habe alle Zeit der Welt, mein Denken zu ordnen und in eine Form zu bringen, die dem anderen nicht nur erlaubt, meine innere Welt zu verstehen, sondern ihm vielleicht sogar Freude an ihrer Darbietung bereitet.
Lese ich die Antwort, bin ich wieder ganz bei der Absenderin oder dem Absender. Ich habe Zeit, in aller Ruhe zuzuhören. Ich muß nicht sofort reagieren oder eine Antwort formulieren. Ich kann ganz auf die niedergeschriebenen Gedanken eingehen, kann sie mehrfach lesen, bis ich sie meine verstanden zu haben.
Da kaum noch jemand die Zeit, die Ruhe oder auch nur die Aufmerksamkeitsspanne hat, längere Texte freiwillig zu lesen, und da ich niemanden verpflichten kann und möchte, meine Ergüsse zu lesen, schreibe ich hier einfach für mich. Briefe ohne Empfänger sozusagen. Aber mit allem, was das Schreiben ausmacht: Einatmen, ordnen, ausschreiben. Es ist kein Versuch, nun auf dem vierten Bildungsweg doch noch Schriftsteller zu werden, kein Versuch, irgendwelchen Applaus einzuheimsen. Niemand wird auf diesen Blog hingewiesen, die Suchmaschinen sind gebeten, die Seite nicht zu indizieren, die Kommentare sind deaktiviert. Kein RSS-Feed, kein Abo, kein Button zum Teilen auf Social Media Kanälen. Einfach schreiben.
Aber worüber möchte ich schreiben? Wenn man in die Welt schaut, springen einem die Dinge ins Auge, die scheinbar überhaupt nicht funktionieren. Sie werden allerorten in den Fokus der Aufmerksamkeit gezerrt, analysiert, seziert und auf diese Weise monströs vergrößert. Es ist so einfach, in den Chor des Geheules und Gejammers einzustimmen. Beschwerden und Empörung sind wohlfeil. Ja, Empörung scheint die vorherrschende Emotion unserer Tage. Je drastischer und sensationeller das Fehlverhalten von Mitmenschen vorgeführt wird, desto höher die Aufmerksamkeit und desto lauter der Beifall für den, der es beschreibt.
Ich möchte andere Samen gießen. Ich möchte über das schreiben, was mich fasziniert und begeistert. Was mich verwundert und erstaunt. Über das Schöne und Geheimnisvolle, das nicht auf den ersten Blick Ersichtliche, das oft Übersehene. Über das, was ich liebe. Das Stille, Leise, Feine.
Ich liebe das Schlichte und Einfache. Ich liebe Natürlichkeit. Ich liebe das Schöne. Diese drei Kategorien sollen mir ein Leitfaden sein, deswegen finden sie sich im Untertitel.
Und der Titel? Bauchgevühl? Wenn man ganz ruhig wird und zur Basis der Existenz hinabtaucht, dann begegnet man auch wieder seinem Bauchgefühl. Es ist ein innerer Kompaß zu unfehlbaren Antworten. Es nimmt den Fragen den Schrecken, dem Leben die Angespanntheit. Durch das Bauchgefühl kommt die Weisheit aus höheren Dimensionen zu uns und führt auf ganz einfache, natürliche und schöne Weise zu mehr Einfachheit, Natürlichkeit und Schönheit im Leben.
Das V gibt dem Wort nicht nur eine hübsche, kleine Irritation, sondern versinnbildlicht optisch die Eingebung von oben. Sowie akustisch die Feinheit und Weichheit des Gefühls, dessen f fast zu hart klingt. Das v weißt mehr in Richtung des w, also des Bauchgewühls, das vielleicht vor dem irgendwann klaren Gefühl steht. Das v im Gevühl ist das Ungefähre, das Schwebende, das Offene, das das Bauchgefühl charakterisiert.
Darum also schreibe ich diesen Blog. Um wieder zu atmen. Und um in der Welt das Wunder zu sehen, das Schöne und Geheimnisvolle. Das, was ganz offensichtlich funktioniert. Aber auch das Vage und Ungefähre, die Schattierungen und Zwischentöne und flüchtigen Gefühle, die sich dem Ausdruck so gern entziehen. Und doch in flirrendes Entzücken geraten, wenn sie wider aller Erwartung gesehen und vielleicht, vielleicht sogar beschrieben werden.
Jo Titze