Natürlichkeit

Natürlichkeit

Natürlichkeit

Natürlichkeit, wie sehr ich dich liebe! Allein die Betrachtung deines Wortstammes, zurückgehend auf das lateinische „natus“, geboren, eröffnet ein Meer an Einsichten und Ausblicken: Du bist, wie du geboren bist. Du zeigst dich unverstellt in deiner Essenz, versteckst dich nicht hinter Zäunen und Mauern aus Lug und Trug, Schichten von Blendwerk. Du leitest den Blick nicht ab von dir, schickst ihn nicht in die Irre, verfährst ihn nicht auf Nebenschauplätze, sondern läßt dich von ihm treffen. Du hältst ihn aus und zeigst damit unfehlbar, daß du dich selbst aushältst. Niemand, der sich nicht selbst aushält, hält ungeschützt den Blick eines anderen aus.

Du stehst zu dir, du biederst dich nicht fremden Erwartungen an, indem du dein Verhalten, dein Denken, dein Aussehen, deine Kleider in der gewünschten Weise an die Anforderungen und Normen anderer anpaßt. Das ermöglicht dir, die Wahrheit zu sagen.
Und du mußt die Wahrheit lieben, denn alles an dir ist, ja du selbst bist Wahrheit. Ausgedrückte Wahrheit. Du wirst rot, wenn dir etwas unangenehm ist. Deine Augen flackern, deine Stimme stolpert, wenn du lügen sollst. Du beherrscht vielleicht viele Künste, aber nicht die Kunst des Lügens.

In der Wahrheit, ebenso wie in der Unverstelltheit offenbarst du dich als Schwester der Einfachheit. Das ist der Grund, warum du so herrlich entspannt bist.

Wir wissen beide, daß es Menschen gibt, die dich langweilig finden. Das sind die Menschen, die ständig einen neuen äußeren Reiz brauchen. Das sind die Menschen, die das Drama und den Nervenkitzel lieben, für die Lüge und Manipulation ein reizvolles Spiel ist.
Diese Menschen leben in einer anderen Welt mit eigenen Regeln, Prioritäten und Wertvorstellungen. Ich will diese Welt gar nicht abwerten oder herabwürdigen, aber in ihr möchte ich nicht mehr leben.

Natürlichkeit, ich liebe dich, weil ich den Frieden liebe. Weil ich die Einfachheit liebe und die Wahrheit, die den Frieden bringen. Du bist wie ruhiges, tiefes Atmen, nicht wie panisches Luftschnappen, adrenalingeschwängertes Stoßatmen oder dramatisches Hyperventilieren. Du bist eher ein Wim Wenders-Film oder ein Tarkowski. Ein Actionkracher bist du nicht. Du bist das Picknick auf einer Bergwanderung. Aber definitiv kein Bungee-Sprung.

Du schaust mir ohne Umwege in die Augen und machst dabei den Weg für den Blick in deine Seele frei. Du bist tief und intensiv und wunderschön, wenn man es schafft, sich auf dich einzulassen. Wer auf der Flucht vor sich selbst ist, wird dich fliehen, denn dein stoischer Blick geht tief. Wer sich selbst sucht, mag sich in deinem klaren, reinen Spiegel finden.

Jede Verstellung kopiert, sie braucht Vorbilder, sucht etwas anderes zu sein, gibt vor, ein anderer zu sein, den sie für größer, stilvoller oder ehrfurchtsgebietender als sich selbst hält. Je länger und intensiver diese Mimikry geübt wird, desto mehr verliert sich das Individuum.

Du aber bist die seltene Blume, die in sich selber wurzelt. Du bist Gottes Gedanke in seiner reinen Schönheit, echt und authentisch und direkt. Du gehst ohne Umwege ins Blut. Ich liebe dich, Natürlichkeit, aus dem einen Grund, der dich definiert: Du bist, was du bist.

Text und Photographie: Jo Titze