Schönheit

Schönheit

Schönheit

Wer sich heute über Schönheit Gedanken macht, sieht sich wahrscheinlich früher oder später dem Vorwurf der Profanität, wenn nicht gar geistloser Oberflächlichkeit ausgesetzt. In einer fast vollständig auf materielle Äußerlichkeiten fixierten Welt scheint Schönheit nach Geld und Macht das einzige noch im Wertekanon verbliebene und anerkannt erstrebenswerte Ziel. In so einer Welt muß mit Schönheit eine äußerliche Schönheit gemeint sein.
Fitness-Studios, Beauty-, Kosmetik-, Lashes-, Nagel-, Waxing-, Tattoo-, Piercingstudios, Modegeschäfte, Friseure, Drogerien sprechen in ihrer schieren Masse eine deutliche Sprache. Sie sprießen, wachsen und gedeihen an jeder Straßenecke. Meist dort, wo zuvor eine Buchhandlung, ein Antiquariat, ein Plattengeschäft oder eine Galerie geschlossen hat.

Ein Blick in die Geistesgeschichte mag hier heilsame, für manche auch überraschende Wirkung tun. Zu allen Zeiten und Epochen scheinen sich Menschen schon Gedanken über Schönheit gemacht zu haben. Und zwar nicht jene, die nach Sanktionierung ihrer Bemühungen um den Anschluß an den Massengeschmack lechzten, sondern gerade die besten, die größten Geister, die die Menschheit hervorgebracht hat, unter ihnen Philosophen, Schriftsteller, Künstler, Mystiker, Theologen, Wissenschaftler.

Als ich einst an der Universität Bochum das Studium der Psychologie aufnahm, war eines der ersten Projekte, mit dem wir uns befaßten, eine Studie über die Attraktivität von Gesichtern.
Sich dem im 19. Jahrhundert immer dominanteren Materialismus unterordnend, hatte die Psychologie ab Mitte jenes Jahrhunderts ihre Bemühungen verstärkt, als empirische Wissenschaft anerkannt zu werden. Und auch wenn sie dieses Ziel zu Beginn des 20. Jahrhunderts formal erreicht hatte, reichen ihre Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den arrivierten Naturwissenschaften bis in die Gegenwart. Mag ihr Hintertreffen durch den gar nicht direkt beobachtbaren und schon gar nicht meßbaren Gegenstand ihrer Studien noch so erklärbar, ja entschuldbar erscheinen. Die daraus folgenden, teils grotesken Überkompensationen sind auch in der modernen Psychologie eher die Regel als die Ausnahme.

Ich sah mich also einer endlosen Reihe stark schematisierter Gesichter gegenüber, man könnte sie auch schlicht Strichmännchen nennen. Mit jeweils leicht variierten Anordnungen der Hauptelemente Augen, Augenbrauen, Nase und Mund, die von Versuchspersonen bezüglich ihrer Attraktivität beurteilt werden sollten. Durch Ausmessen der mathematischen Bezüge zwischen den einzelnen Elementen wollte die Studie eine verläßliche Aussage darüber machen, was allgemein als attraktiv und schön empfunden wird. Völlig unerwartet schien z.B. eine gewisse Symmetrie als schön empfunden zu werden, soviel Ironie sei mir erlaubt. Als an der Seele interessierter hoffnungsvoller Aspirant der Wissenschaft ebendieser, hätte ich enttäuschter nicht sein können.

Wäre mir mein Philosophielehrer in der Oberstufe nicht etwas unangenehm gewesen, hätte ich vielleicht damals in Bochum schon den Zusammenhang mit einer uralten Definition von Schönheit der griechischen Antike erkannt. Diese besagt, daß die Schönheit eines beliebigen materiellen oder ideellen Gegenstands begründet liegt im harmonischen Verhältnis sowohl der Teile untereinander als auch der Teile zum Ganzen. Man könnte nun mit böser Zunge feststellen, daß wir auf dem Weg von Athen nach Bochum nicht allzu weit gekommen sind. In Wahrheit sind wir mächtig herumgekommen.

Der sagenumwobene Pythagoras, der ungefähr 570 bis 510 vor Christus lebte, soll in musikalischen Harmonien mathematisch darstellbare Verhältnisse entdeckt haben.
Aufeinanderfolgende Töne werden als harmonisch klingend empfunden, wenn das Verhältnis ihrer Frequenzen mit einfachen ganzen Zahlen ausgedrückt werden kann. Hinter der Realität gab es also scheinbar eine mathematische Ordnung. Mathematik und Musik fügten sich widerstandslos in die pythagoreische Kosmologie. Und beides war schön.
Der Gedanke, daß Menschen auch andere tonale Verhältnisse als harmonisch oder besser, als schön empfinden könnten, kam anscheinend niemandem. Aller vermeintlich objektiven Wissenschaft zum Trotz geht der Menschen eben doch immer von sich selber aus. Ich werde später auf Pythagoras zurückkommen.

Platon, dieser philosophische Titan, der irgendwie aus einer anderen Welt gekommen sein muß, baute etwas später vielleicht auf Pythagoras’ Entdeckungen auf. Irgendetwas sagte ihm, daß hinter allem, was wir in unserer Welt wahrnehmen können – und oft genug als nicht perfekt wahrnehmen –, eine perfekte Idee steht, von der das Sichtbare ein mehr oder weniger gelungenes Abbild ist. Diese von uns nicht direkt wahrnehmbare Idee ist schön in ihrer Perfektion; und je mehr von ihr in ihrem materiellen Konterfei sinnlich erfahrbar wird, als desto schöner empfinden wir es. Er hatte dabei wohl auch die Mathematik, namentlich die Geometrie im Hinterkopf, denn eines seiner Beispiele war der Kreis. Der bekanntlich nur solange ideal und perfekt ist, wie er mathematisch beschrieben ist. Sobald wir versuchen, einen Kreis zu bilden, zu formen, zu zeichnen, weicht das Ergebnis bekanntermaßen mehr oder weniger deutlich von der Idealform ab.

Platons Idee fanden viele sehr ansprechend, so daß sie immer wieder von späteren Denkern aufgenommen wurde, ob es nun Philosophen oder Naturwissenschaftler waren.
Platon hatte aber noch mehr zum Thema Schönheit zu sagen. Er hatte dabei wohl mehr den Menschen im engeren Sinn und wurde dann sehr streng. Als schön mochte er nur das befinden, was tugendhaft war. Und so detailliert er diesen Gedanken auch ausarbeitete und darzulegen versuchte, hat er meines Erachtens doch einen großen Pferdefuß. (Kritisiere ich hier etwa gerade den großen Platon? :-$). Denn hier muß jemand definieren, was unter tugendhaft verstanden wird. Platon zögert auch nicht, das zu tun. Die Erfahrung zeigt aber, daß sich von Zeit zu Zeit ändert, was Menschen als tugendhaft empfinden. Und daß es immer Menschen sind, die hierzu die Regeln festlegen. Und daß sie sich niemals darüber einig sind.

Natürlich ist der Grundgedanke brilliant. Man könnte ihn vielleicht dahingehend abwandeln, daß von einem Menschen oft das als schön empfunden wird, was ER SELBER zu diesem Zeitpunkt für tugendhaft hält. Und ja, manchmal finden Menschen es eben tugendhaft, überhaupt nicht tugendhaft zu sein.

Und hier muß ich interessanterweise zu meiner Oma springen. Die formulierte den Sachverhalt nämlich ganz ähnlich: „Schön ist nicht schön, Gefallen macht schön.“ Ich bin sicher, daß jedermanns und -fraus Oma so etwas ähnliches schon einmal geäußert hat: „Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Das gilt wohl für menschliches Aussehen, Verhalten wie überhaupt für alle Dinge.
Unsere lebensklugen Omas bringen also den Gedanken ein, daß Schönheit subjektiv sein könnte. Nun steht Platon also dumm da, denn seinen perfekten Ideen bzw. Idealen sagt er ja eine inhärente, objektive Schönheit nach. Zu dumm, daß sie sich durch beharrliche Unsichtbarkeit der Überprüfung sämtlicher Thesen entziehen.

Dann, viel später, trat Plotin auf, 205 bis 270 n. Chr. lebend und Begründer der neuplatonischen Schule. Wie man sich einfach erschließen kann, war er von Platons Ideen immer noch sehr beeindruckt und sponn sie weiter. Zum Thema Schönheit hat er einen wesentlichen Beitrag geleistet, den niemand so schön ausgedrückt hat, wie Werner Heisenberg in einem Vortrag vor der Akademie der Schönen Künste in Berlin. Schönheit sah Plotin danach „als das Durchleuchten des ewigen Glanzes des ‚Einen‘ durch die materielle Erscheinung.“

Kommen wir zunächst zurück zu Pythagoras. Wie sich später herausstellte, ist es mitnichten so, daß die idealen mathematischen Zahlenverhältnisse hinter Tönen dem menschlichen Ohr ausnahmslos perfekt harmonisch erscheinen. Die Angelegenheit erwies sich als deutlich komplizierter, wie die vielen Ansätze und Traktate über das Stimmen von Musikinstrumenten in den folgenden Jahrhunderten beweisen. Erst in der Barockzeit fand Bach mit der wohltemperierten Stimmung einen als für unsere Ohren harmonisch akzeptierten Kompromiß. Allerdings kann diese Behauptung sicher nicht für alle Kulturkreise des Erdballs gleich gültig erklärt werden.

Es zeigte sich also, daß die angenommenen idealen Ideen hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen gar nicht unbedingt immer als schön empfunden werden, sondern daß die tatsächlich empfundene Schönheit oft ein wenig daneben liegt, und mathematisch in von Mathematikern als unschön empfundenen krummen langen Kommazahlen ausgedrückt werden müßte.

Was Plotin also mit dem durchscheinenden Glanz des Einen meinte, könnte sich also von den idealen Formvorbildern Platons und Pythagoras’ unterscheiden. Aber um was könnte es sich hier handeln?

Die gleichförmigen Strichgesichter der psychologischen Studie, so symmetrisch sie unter Umständen auch waren, empfand ich in keinster Weise als attraktiv. Und jeder, der mit einem Bildbearbeitungsprogramm oder auch nur mit einer Schere umgehen kann, kann leicht selbst überprüfen, welch subtiler Horror von einem perfekt symmetrischen Gesicht ausgeht. Es sind die kleinen Abweichungen, die etwas auseinanderstehenden oder höhenversetzten Augen, die leicht abstehenden Ohren, die etwas zu großen Nasenflügel, das asymmetrische Grübchen, die charaktervoll, schön und attraktiv erscheinen. Sie faszinieren, erzählen Geschichten, machen einmalig und unverwechselbar.

An diesem Punkt muß unsere Oma wieder ins Spiel kommen. Denn sie stellte auf breiter empirischer Basis fest, daß ein Mensch, so perfekt symmetrisch oder auch wunderbar von der Symmetrie abweichend er auch gewachsen sein mag, niemals immer allen gefällt.

Unsere Omas stoßen hier den Mathematikern, Wissenschaftlern und allen Menschen vor den Kopf, die so sehr vernarrt in den Gedanken der Objektivität sind. Ihr Denken kreist beständig um einheitliche und allgemeinverbindliche Normen, Regeln, Gesetze. Der Gedanke, daß die Welt rein subjektiv sein könnte, macht sie ganz krank. Diese Art Menschen empfindet alles als beruhigend schön, was rational und logisch nachvollziehbar, möglichst auch berechenbar und somit vorhersagbar ist. Im Laufe der letzten beiden Jahrtausende haben sie nahezu absolute Meinungshoheit im öffentlichen, wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs erlangt. Nur unsere Omas haben sie niemals überzeugen können.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich bin fest überzeugt, unsere Omas hätten Plotin mit Freude zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Und Plotin hätte Blumen mitgebracht. Sie hätten sich angeregt unterhalten und prima verstanden.

Denn jeder Mensch hat etwas einzigartiges (und damit auch etwas unberechenbares und unvorhersagbares), das er natürlich nur haben kann, gerade weil er im Detail von einer wie auch immer gedachten Idealform abweicht. Und das gleichzeitig in keiner Weise von allem anderen getrennt ist, das also mit Recht als „das Eine“ bezeichnet werden könnte. Das, mit dem wir alle verbunden sind, ohne uns dessen wirklich bewußt zu sein, denn über die Jahrhunderte haben wir alle irgendwann angefangen, den bestechend logischen Rationalisten zu glauben. Etwas, zu dem wir uns unbewußt zurücksehnen, von dem wir uns angezogen fühlen, das also sehr attraktiv ist. Das Wort attraktiv geht schließlich auf das lateinische atrahere (anziehen) zurück. Da ist etwas, das leuchtet und scheint, und vor allem im Glanz der Augen wahrgenommen werden kann. Es ist in faszinierender und verstandübersteigender Weise gleichzeitig einmalig und eins mit allem anderen. Es erklärt, warum ein und derselbe Mensch von dem einen als gewöhnlich und von dem nächsten als wunderschön empfunden wird.

Es ist das, was die Psychologie in ihrer Anbiederung an die Logik verworfen hat, was sie aber nach wie vor im Namen trägt: die Seele!

Aber halt! Sind Pythagoras, Platon, all die klugen Wissenschaftler, Mathematiker, Psychologen denn nun tatsächlich so ganz ohne blassen Schimmer? Ist es denn nicht tatsächlich oft eine gewisse Ebenmäßigkeit oder Ordnung, die wir als schön empfinden?

Nun, jede Seele ist einzigartig, in ihrer erscheinungsmäßigen Ausprägung, in ihrem Entwicklungsstand, ihrer Bewußtheit, ihrem Anliegen und ihren Absichten. Wäre es nicht zu erwarten, daß diese Eigenheiten sich auch in der physischen Form ausdrücken, die die Seele annimmt? Anders gesagt, wäre es nicht möglich, daß das, was wir als eine strahlend schöne Seele wahrnehmen, diese Schönheit nicht nur jenseits der sinnlichen Wahrnehmungsebene ausstrahlt, sondern auch in die sinnlich wahrnehmbaren Formen einprägt? Nicht nach meßbaren Gesetzmäßigkeiten, aber doch mit einer erfaßbaren Tendenz.

Fallen hier möglicherweise die Hauptströmungen der menschlichen Schönheitsüberlegungen zusammen? Nicht immer, nicht unveränderlich, aber doch ausreichend häufig, um unseren Omas aufzufallen.

Text und Photographie: Jo Titze

Natürlichkeit

Natürlichkeit

Natürlichkeit

Natürlichkeit, wie sehr ich dich liebe! Allein die Betrachtung deines Wortstammes, zurückgehend auf das lateinische „natus“, geboren, eröffnet ein Meer an Einsichten und Ausblicken: Du bist, wie du geboren bist. Du zeigst dich unverstellt in deiner Essenz, versteckst dich nicht hinter Zäunen und Mauern aus Lug und Trug, Schichten von Blendwerk. Du leitest den Blick nicht ab von dir, schickst ihn nicht in die Irre, verfährst ihn nicht auf Nebenschauplätze, sondern läßt dich von ihm treffen. Du hältst ihn aus und zeigst damit unfehlbar, daß du dich selbst aushältst. Niemand, der sich nicht selbst aushält, hält ungeschützt den Blick eines anderen aus.

Du stehst zu dir, du biederst dich nicht fremden Erwartungen an, indem du dein Verhalten, dein Denken, dein Aussehen, deine Kleider in der gewünschten Weise an die Anforderungen und Normen anderer anpaßt. Das ermöglicht dir, die Wahrheit zu sagen.
Und du mußt die Wahrheit lieben, denn alles an dir ist, ja du selbst bist Wahrheit. Ausgedrückte Wahrheit. Du wirst rot, wenn dir etwas unangenehm ist. Deine Augen flackern, deine Stimme stolpert, wenn du lügen sollst. Du beherrscht vielleicht viele Künste, aber nicht die Kunst des Lügens.

In der Wahrheit, ebenso wie in der Unverstelltheit offenbarst du dich als Schwester der Einfachheit. Das ist der Grund, warum du so herrlich entspannt bist.

Wir wissen beide, daß es Menschen gibt, die dich langweilig finden. Das sind die Menschen, die ständig einen neuen äußeren Reiz brauchen. Das sind die Menschen, die das Drama und den Nervenkitzel lieben, für die Lüge und Manipulation ein reizvolles Spiel ist.
Diese Menschen leben in einer anderen Welt mit eigenen Regeln, Prioritäten und Wertvorstellungen. Ich will diese Welt gar nicht abwerten oder herabwürdigen, aber in ihr möchte ich nicht mehr leben.

Natürlichkeit, ich liebe dich, weil ich den Frieden liebe. Weil ich die Einfachheit liebe und die Wahrheit, die den Frieden bringen. Du bist wie ruhiges, tiefes Atmen, nicht wie panisches Luftschnappen, adrenalingeschwängertes Stoßatmen oder dramatisches Hyperventilieren. Du bist eher ein Wim Wenders-Film oder ein Tarkowski. Ein Actionkracher bist du nicht. Du bist das Picknick auf einer Bergwanderung. Aber definitiv kein Bungee-Sprung.

Du schaust mir ohne Umwege in die Augen und machst dabei den Weg für den Blick in deine Seele frei. Du bist tief und intensiv und wunderschön, wenn man es schafft, sich auf dich einzulassen. Wer auf der Flucht vor sich selbst ist, wird dich fliehen, denn dein stoischer Blick geht tief. Wer sich selbst sucht, mag sich in deinem klaren, reinen Spiegel finden.

Jede Verstellung kopiert, sie braucht Vorbilder, sucht etwas anderes zu sein, gibt vor, ein anderer zu sein, den sie für größer, stilvoller oder ehrfurchtsgebietender als sich selbst hält. Je länger und intensiver diese Mimikry geübt wird, desto mehr verliert sich das Individuum.

Du aber bist die seltene Blume, die in sich selber wurzelt. Du bist Gottes Gedanke in seiner reinen Schönheit, echt und authentisch und direkt. Du gehst ohne Umwege ins Blut. Ich liebe dich, Natürlichkeit, aus dem einen Grund, der dich definiert: Du bist, was du bist.

Text und Photographie: Jo Titze

Einfachheit

Einfachheit

Einfachheit

Das Wort „einfach“ hat im Deutschen viele Synonyme. Neben der ursprünglichen Bedeutung „nur einmal vorhanden“, gibt es zwei jüngere Hauptbedeutungsgruppen, von denen eine mit den Begriffen „leicht“ (zu begreifen, durchzuführen, handzuhaben) und „mühelos“ (zu erreichen) ausdrückt, daß etwas wenig Anstrengung erfordert. Die zweite Hauptgruppe mit „schlicht“, „bescheiden“, „ungekünstelt“, „klar“, „minimalistisch“, „eingängig“, „primitiv“ beschreibt, daß etwas aus wenigen Komponenten besteht, bzw. wenige Faktoren zu seiner Entstehung notwendig sind. Eine dritte Gruppe mit „unkompliziert“, „nicht komplex“, „trivial“, „simpel“ liegt bedeutungsflexibel zwischen den beiden Hauptgruppen. Und auf die eine oder andere Weise hängen alle Begriffe auch zusammen, bzw. bedingen sich.

Wie die Liste der Synonyme bereits erahnen läßt, kann Einfachheit positiv oder negativ konnotiert sein. Entscheidend ist hier allein die persönliche Ausrichtung und Vorliebe.

Beim Versuch, mich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, stelle ich fest, daß dies noch viel tiefer in die Subjektivität hineinführt, denn das entscheidende Kriterium ist für mich dabei die „Angemessenheit“.

Wenn etwas meiner Ansicht nach angemessen einfach oder komplex ist, hat es meine volle Unterstützung. Wenn etwas übermäßig und unnötig komplex oder simplifiziert ist, wende ich mich ab. Eine Argumentation, die auf unangemessen simplifizierter und oberflächlicher Betrachtungsweise aufbaut, wird mich niemals überzeugen. Ein Musikstück mit geringem Tonvorrat und vielen Wiederholungen wird es wohl nicht in meine Top Ten schaffen. Genauso findet eine unangemessen oder übermäßig komplexe Technologie niemals meine Zustimmung. Ein einfaches Beispiel wäre hier der berühmte elektrische Eierschneider. Das ist zugegebenermaßen pure Subjektivität. Allgemeingültige Regeln werden auf diesem Gebiet unter keinen Umständen aufzustellen sein.

Schon in der als Fin de Siècle bekannten Epoche Ende des 19. Jahrhunderts bereitete sich erstmals eine Zivilisation- und Technikmüdigkeit aus. Nach zwei Jahrhunderten, in denen jeder technische Fortschritt überwiegend kritiklos bejubelt wurde, war man plötzlich nicht mehr so sicher, ob man sich mit der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung auf dem richtigen Weg befand. Die Sehnsucht nach dem Einfachen, Schlichten und Natürlichen führte unter anderem zu einer Bewegung zurück zur Natur, wie sie sich z.B. die Wandervögel auf ihre Fahnen schrieben.

Der große portugiesische Schriftsteller José Maria Eça de Queirós schrieb in dieser Zeit eine hübsche, fortschrittskritische Geschichte. Der Icherzähler beschreibt darin seinen Freund Jacinto als den zivilisiertesten Menschen, den er je kennengelernt hat. Jacinto lebt im vierzigräumigen Stadtpalast seiner Eltern und ist umgeben von allem, was damals Zivilsiertheit bedeutete. Zivilisation, so der Titel der Geschichte, drückt sich hier außer in Überfluß vornehmlich in Komplexität und Ausdifferenziertheit aus. Wenn die Erfüllung essentieller Bedürfnisse außer Frage steht, stürzt sich der menschliche Geist auf die weniger essentiellen Bedürfnisse oder erfindet gleich ganz neue Bedürfnisse hinzu. Und wenn er sich erst einmal mit einem beliebigen Thema tief und intensiv befaßt, kommt er schnell vom Hundertsten ins Tausendste.

So hat Jacinto nicht etwa nur eine Gabel, nein er hat eine Gabel für Fleisch, eine für Fisch, eine für Austern, eine für Gemüse, eine für Obst und eine für Käse.
So sehr ist er an all die Dinge, die technischen Apparaturen, Annehmlichkeiten und vermeintlichen Erleichterungen gewöhnt, daß er für eine Reise zu einem entfernten Landsitz sage und schreibe siebenunddreißig Koffer packt.
Aufgrund von Mißgeschicken und Mißverständnissen gehen nicht nur die Koffer auf der Reise verloren, sondern auf dem Landsitz zeigt man sich völlig überrascht vom Auftauchen der Herrschaft, so daß kaum Personal vor Ort ist, und das Gebäude sich in halbfertigem Renovierungszustand befindet. Löcher im Dach, fehlende Fensterscheiben, leere Räume.
Doch die Schönheit der umgebenden Natur, das einfache, aber gute Essen und die schlichte Herzlichkeit der Landbevölkerung bieten so reiche Kompensation, daß selbst der blasse, überzivilisierte Jacinto sich dem nicht entziehen kann. Am Ende heiratet er ein „kräftiges, gesundes und schönes“ Mädchen und richtet sich dauerhaft in der Einfachheit des Landlebens ein, während sein Stadtpalast mit all der modernen und nun ihre Überflüssigkeit offenbarenden Technik dem Verfall überlassen wird.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts breitet sich neuerlich eine Fortschritts-, Technik- und Überflußmüdigkeit aus, die sich in Phänomenen wie Minimalismus, Selbstversorgung, Biolandwirtschaft oder dem Aufstreben der Grünen Partei manifestiert. Wanderer, bzw. neudeutsch Outdoorfreunde brauchen im Gegensatz zu Jacinto nur ein einziges Messer. Diesem wird zwar durchaus viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber es muß ja fortan auch für alles herhalten, nicht nur für Fisch, Fleisch und Gemüse, sondern auch für Schnitz- und Sägearbeiten, Reparaturen, kleinen Operationen, vielleicht sogar zur Jagd. Insbesondere die Ultralight-Fanatiker unter den Backpackern achten sehr darauf, daß ein einziger Gegenstand möglichst viele Zwecke erfüllen kann.

Jenseits dieser nachvollziehbaren Zweckmäßigkeiten, die sich positiv auf Gewichtsbelastung, Raumverbrauch, Umwelt und finanzielle Liquidität auswirken, schlägt mein Herz vor allem aus einem Grund für die Einfachheit: Sie hält den Geist frei.

Komplexität saugt unsere Aufmerksamkeit auf. Komplexe Technik ist nicht mehr ohne ständiges, ausgiebiges Studium von Anleitungen zu bedienen. Die beängstigend beschleunigte Abfolge digitaler Technikzyklen verlangt uns mit jedem Update ein nicht unbedeutendes Lebenszeitinvestment ab.

Längst haben wir den Überblick über unsere Login-Daten in unzählige Apps und Websites verloren. Jede Neuanschaffung verführt zu tagelangen Recherchen, um im unüberschaubaren Überangebot die Spreu vom Weizen zu trennen und das für uns optimale Set von Eigenschaften zum günstigstmöglichen Preis zu ergattern.
Werkzeuge, die uns eigentlich helfen sollen Zeit einzusparen, wie z.B. Computerbetriebssysteme oder Internetbrowser, kassieren eine mögliche Zeitersparnis umgehend wieder ein, weil sie immer mehr Funktionen bieten, die erst einmal verstanden, ausprobiert und eingeübt werden müssen.

Das größte Problem scheint mir hier das offizielle Narrativ. Das besagt, daß das Leben umso erfüllter ist, je voller es ist. Voller Besitzgegenstände, voller Wissen, voller möglichst exotischer Erfahrungen, voller Freunde und Follower in Sozialen Medien.
Wer die Komplexität beherrscht, wer ganz lässig die Funktionen des neuesten iOS oder der neuesten Sonykamera erklären kann, der darf sich über großes gesellschaftliches Ansehen freuen.

Es gehört viel Mut dazu, auf derartige Egobooster zu verzichten. Sie scheinen uns so viel zu geben, auf das wir nun verzichten müssen.
Mir wurde eines Tages klar, daß die Hetze vom Verstehen des einen komplexen Phänomens zum Zueigenmachen des nächsten dazu geführt hat, daß ich niemals Zeit zu haben meinte, mich einem einzigen Phänomen in aller Tiefe zu widmen.
Noch nie habe ich etwas wirklich gesehen, wirklich angeschaut, bis ich es in aller Tiefe durchdrungen und verstanden hatte. Kein Ding, keine Blume, keinen Baum, auch keinen Menschen.
Noch nie habe ich ein Essen wirklich geschmeckt und geschätzt, indem ich ihm meine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.
Noch nie habe ich eine Konversation geführt, in der ich jeden Satz in aller Konsequenz durchdachte, bevor ich ihn äußerte.
Noch nie war ich in einem Moment wirklich voll und ganz anwesend. Ein Offenbarungseid. Ein äußerst betrüblicher, je länger und intensiver man ihm gestattet, im Raum zu stehen.

Ironischerweise bedurfte es erst einer häßlichen Coronakrise, um die Entbehrlichkeit von vielem zu erkennen, das mir zuvor erstrebenswert oder gar unerläßlich erschien.
All der Lärm, all die Ablenkung, die ständige Beschäftigung des Geistes mit immer komplexeren Phänomenen, der volle Terminkalender, das volle Adreßbuch, der Versuch up to date, auf der Höhe der Zeit zu sein, dürfen jetzt gehen, oder zumindest sehr weit in den Hintergrund treten.

Die Zenphilosophie erschien mir immer schon ebenso anziehend wie alltagsuntauglich. Natürlich, zu dem, was wir hier Alltag nennen, paßt sie einfach nicht. Und doch trifft sie in vielen wesentlichen Punkten den Nagel auf den Kopf. Darum möchte ich nun einen anderen Alltag.

Die Zenmönche rieten schon immer: Wenn du gehst, dann geh. Wenn du ißt, dann iß. Wenn du betest, dann bete. Sie haben recht.

Denn wenn du 1000 mal gehst, ißt und betest, dabei aber im Geiste irgendwo anders bist, bist du keinmal gegangen, hast keinmal gegessen, keinmal gebetet. Eigentlich, so bitter das ist, hast du überhaupt nicht gelebt. Du hast vielleicht auf Autopilot dahinvegetiert, während du dir eingeredet hast, daß sich so das pralle Leben anfühlt. Schneller, höher, weiter, größer, vor allem aber mehr, mehr, mehr. Mehr Geld, mehr Besitz, mehr Raum, mehr Erlebnisse, mehr Events, mehr Freunde, mehr Follower. All dieses Mehr hat zu einer Komplexität geführt, die wir mit Lebenszeit bezahlen, genauso wie mit zwangsläufiger Oberflächlichkeit.

Die Einfachheit ist eine große Befreiung, ein unfaßbar wertvolles Geschenk.

Schaffe ich mir ein neues Auto an, muß ich lange arbeiten, um den Kaufpreis aufzubringen. Ich muß mich um seinen technischen Zustand kümmern, muß es reparieren, waschen, pflegen, auftanken, durch den TÜV bringen, Steuern und Versicherung zahlen. Ich sorge mich, ob es draußen auf der Straße beschädigt oder gestohlen wird. Wenn ich stattdessen am Carsharing teilnehme, fällt all das einfach weg.

Kaufe ich mir ein Haus oder eine große Wohnung, potenziert sich der Aufwand. Mir genügen ein oder zwei Zimmer. Ich komme nicht in Versuchung, unnötiges Zeug anzusammeln. Es ist dafür schlicht kein Platz. Ich muß weniger staubwischen, weniger pflegen und reparieren.
Ich muß auch nicht mehr von einem komplexen Kulturevent zum nächsten rennen, um danach pseudointellektuelle Diskussionen darüber führen zu können.

In fast allen Bereichen menschlicher Existenz schlummert ein riesiges Komplexitätseinsparungspotential. Ich muß lachen, daß ich hier automatisch in den Duktus all derer verfalle, die sich eine goldene Nase daran verdienen, uns teures und unter dem Strich zeitverschwendendes Zeugs als zeitsparend zu verkaufen. So oft ist uns dieses Denken und dieses Vokabular vorgebetet worden, daß es in Fleisch und Blut übergegangen ist und nur seltenst noch hinterfragt wird.

Überraschenderweise ist der Bereich mit dem größten und lohnendsten Sparpotential jener der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie oft sind sie nicht komplex, schwierig, unvorhersehbar, gar dramatisch.
Wir müssen dieses Drama ungemein lieben, denn es wäre so einfach, hier Frieden und Einfachheit einziehen zu lassen.

Wie das zu erreichen wäre? Ganz einfach. Sage immer die Wahrheit, selbst wenn du nicht danach gefragt wirst. Sage die Wahrheit über das, was geschehen ist, über das, was du denkst, und über das, was du fühlst.

Und wie von Zauberhand lösen sich alles Drama, alle komplexen Verwicklungen und Schwierigkeiten auf in stille, friedliche Einfachheit.

Text und Photographie: Jo Titze