Einfachheit
Das Wort „einfach“ hat im Deutschen viele Synonyme. Neben der ursprünglichen Bedeutung „nur einmal vorhanden“, gibt es zwei jüngere Hauptbedeutungsgruppen, von denen eine mit den Begriffen „leicht“ (zu begreifen, durchzuführen, handzuhaben) und „mühelos“ (zu erreichen) ausdrückt, daß etwas wenig Anstrengung erfordert. Die zweite Hauptgruppe mit „schlicht“, „bescheiden“, „ungekünstelt“, „klar“, „minimalistisch“, „eingängig“, „primitiv“ beschreibt, daß etwas aus wenigen Komponenten besteht, bzw. wenige Faktoren zu seiner Entstehung notwendig sind. Eine dritte Gruppe mit „unkompliziert“, „nicht komplex“, „trivial“, „simpel“ liegt bedeutungsflexibel zwischen den beiden Hauptgruppen. Und auf die eine oder andere Weise hängen alle Begriffe auch zusammen, bzw. bedingen sich.
Wie die Liste der Synonyme bereits erahnen läßt, kann Einfachheit positiv oder negativ konnotiert sein. Entscheidend ist hier allein die persönliche Ausrichtung und Vorliebe.
Beim Versuch, mich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, stelle ich fest, daß dies noch viel tiefer in die Subjektivität hineinführt, denn das entscheidende Kriterium ist für mich dabei die „Angemessenheit“.
Wenn etwas meiner Ansicht nach angemessen einfach oder komplex ist, hat es meine volle Unterstützung. Wenn etwas übermäßig und unnötig komplex oder simplifiziert ist, wende ich mich ab. Eine Argumentation, die auf unangemessen simplifizierter und oberflächlicher Betrachtungsweise aufbaut, wird mich niemals überzeugen. Ein Musikstück mit geringem Tonvorrat und vielen Wiederholungen wird es wohl nicht in meine Top Ten schaffen. Genauso findet eine unangemessen oder übermäßig komplexe Technologie niemals meine Zustimmung. Ein einfaches Beispiel wäre hier der berühmte elektrische Eierschneider. Das ist zugegebenermaßen pure Subjektivität. Allgemeingültige Regeln werden auf diesem Gebiet unter keinen Umständen aufzustellen sein.
Schon in der als Fin de Siècle bekannten Epoche Ende des 19. Jahrhunderts bereitete sich erstmals eine Zivilisation- und Technikmüdigkeit aus. Nach zwei Jahrhunderten, in denen jeder technische Fortschritt überwiegend kritiklos bejubelt wurde, war man plötzlich nicht mehr so sicher, ob man sich mit der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung auf dem richtigen Weg befand. Die Sehnsucht nach dem Einfachen, Schlichten und Natürlichen führte unter anderem zu einer Bewegung zurück zur Natur, wie sie sich z.B. die Wandervögel auf ihre Fahnen schrieben.
Der große portugiesische Schriftsteller José Maria Eça de Queirós schrieb in dieser Zeit eine hübsche, fortschrittskritische Geschichte. Der Icherzähler beschreibt darin seinen Freund Jacinto als den zivilisiertesten Menschen, den er je kennengelernt hat. Jacinto lebt im vierzigräumigen Stadtpalast seiner Eltern und ist umgeben von allem, was damals Zivilsiertheit bedeutete. Zivilisation, so der Titel der Geschichte, drückt sich hier außer in Überfluß vornehmlich in Komplexität und Ausdifferenziertheit aus. Wenn die Erfüllung essentieller Bedürfnisse außer Frage steht, stürzt sich der menschliche Geist auf die weniger essentiellen Bedürfnisse oder erfindet gleich ganz neue Bedürfnisse hinzu. Und wenn er sich erst einmal mit einem beliebigen Thema tief und intensiv befaßt, kommt er schnell vom Hundertsten ins Tausendste.
So hat Jacinto nicht etwa nur eine Gabel, nein er hat eine Gabel für Fleisch, eine für Fisch, eine für Austern, eine für Gemüse, eine für Obst und eine für Käse.
So sehr ist er an all die Dinge, die technischen Apparaturen, Annehmlichkeiten und vermeintlichen Erleichterungen gewöhnt, daß er für eine Reise zu einem entfernten Landsitz sage und schreibe siebenunddreißig Koffer packt.
Aufgrund von Mißgeschicken und Mißverständnissen gehen nicht nur die Koffer auf der Reise verloren, sondern auf dem Landsitz zeigt man sich völlig überrascht vom Auftauchen der Herrschaft, so daß kaum Personal vor Ort ist, und das Gebäude sich in halbfertigem Renovierungszustand befindet. Löcher im Dach, fehlende Fensterscheiben, leere Räume.
Doch die Schönheit der umgebenden Natur, das einfache, aber gute Essen und die schlichte Herzlichkeit der Landbevölkerung bieten so reiche Kompensation, daß selbst der blasse, überzivilisierte Jacinto sich dem nicht entziehen kann. Am Ende heiratet er ein „kräftiges, gesundes und schönes“ Mädchen und richtet sich dauerhaft in der Einfachheit des Landlebens ein, während sein Stadtpalast mit all der modernen und nun ihre Überflüssigkeit offenbarenden Technik dem Verfall überlassen wird.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts breitet sich neuerlich eine Fortschritts-, Technik- und Überflußmüdigkeit aus, die sich in Phänomenen wie Minimalismus, Selbstversorgung, Biolandwirtschaft oder dem Aufstreben der Grünen Partei manifestiert. Wanderer, bzw. neudeutsch Outdoorfreunde brauchen im Gegensatz zu Jacinto nur ein einziges Messer. Diesem wird zwar durchaus viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber es muß ja fortan auch für alles herhalten, nicht nur für Fisch, Fleisch und Gemüse, sondern auch für Schnitz- und Sägearbeiten, Reparaturen, kleinen Operationen, vielleicht sogar zur Jagd. Insbesondere die Ultralight-Fanatiker unter den Backpackern achten sehr darauf, daß ein einziger Gegenstand möglichst viele Zwecke erfüllen kann.
Jenseits dieser nachvollziehbaren Zweckmäßigkeiten, die sich positiv auf Gewichtsbelastung, Raumverbrauch, Umwelt und finanzielle Liquidität auswirken, schlägt mein Herz vor allem aus einem Grund für die Einfachheit: Sie hält den Geist frei.
Komplexität saugt unsere Aufmerksamkeit auf. Komplexe Technik ist nicht mehr ohne ständiges, ausgiebiges Studium von Anleitungen zu bedienen. Die beängstigend beschleunigte Abfolge digitaler Technikzyklen verlangt uns mit jedem Update ein nicht unbedeutendes Lebenszeitinvestment ab.
Längst haben wir den Überblick über unsere Login-Daten in unzählige Apps und Websites verloren. Jede Neuanschaffung verführt zu tagelangen Recherchen, um im unüberschaubaren Überangebot die Spreu vom Weizen zu trennen und das für uns optimale Set von Eigenschaften zum günstigstmöglichen Preis zu ergattern.
Werkzeuge, die uns eigentlich helfen sollen Zeit einzusparen, wie z.B. Computerbetriebssysteme oder Internetbrowser, kassieren eine mögliche Zeitersparnis umgehend wieder ein, weil sie immer mehr Funktionen bieten, die erst einmal verstanden, ausprobiert und eingeübt werden müssen.
Das größte Problem scheint mir hier das offizielle Narrativ. Das besagt, daß das Leben umso erfüllter ist, je voller es ist. Voller Besitzgegenstände, voller Wissen, voller möglichst exotischer Erfahrungen, voller Freunde und Follower in Sozialen Medien.
Wer die Komplexität beherrscht, wer ganz lässig die Funktionen des neuesten iOS oder der neuesten Sonykamera erklären kann, der darf sich über großes gesellschaftliches Ansehen freuen.
Es gehört viel Mut dazu, auf derartige Egobooster zu verzichten. Sie scheinen uns so viel zu geben, auf das wir nun verzichten müssen.
Mir wurde eines Tages klar, daß die Hetze vom Verstehen des einen komplexen Phänomens zum Zueigenmachen des nächsten dazu geführt hat, daß ich niemals Zeit zu haben meinte, mich einem einzigen Phänomen in aller Tiefe zu widmen.
Noch nie habe ich etwas wirklich gesehen, wirklich angeschaut, bis ich es in aller Tiefe durchdrungen und verstanden hatte. Kein Ding, keine Blume, keinen Baum, auch keinen Menschen.
Noch nie habe ich ein Essen wirklich geschmeckt und geschätzt, indem ich ihm meine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.
Noch nie habe ich eine Konversation geführt, in der ich jeden Satz in aller Konsequenz durchdachte, bevor ich ihn äußerte.
Noch nie war ich in einem Moment wirklich voll und ganz anwesend. Ein Offenbarungseid. Ein äußerst betrüblicher, je länger und intensiver man ihm gestattet, im Raum zu stehen.
Ironischerweise bedurfte es erst einer häßlichen Coronakrise, um die Entbehrlichkeit von vielem zu erkennen, das mir zuvor erstrebenswert oder gar unerläßlich erschien.
All der Lärm, all die Ablenkung, die ständige Beschäftigung des Geistes mit immer komplexeren Phänomenen, der volle Terminkalender, das volle Adreßbuch, der Versuch up to date, auf der Höhe der Zeit zu sein, dürfen jetzt gehen, oder zumindest sehr weit in den Hintergrund treten.
Die Zenphilosophie erschien mir immer schon ebenso anziehend wie alltagsuntauglich. Natürlich, zu dem, was wir hier Alltag nennen, paßt sie einfach nicht. Und doch trifft sie in vielen wesentlichen Punkten den Nagel auf den Kopf. Darum möchte ich nun einen anderen Alltag.
Die Zenmönche rieten schon immer: Wenn du gehst, dann geh. Wenn du ißt, dann iß. Wenn du betest, dann bete. Sie haben recht.
Denn wenn du 1000 mal gehst, ißt und betest, dabei aber im Geiste irgendwo anders bist, bist du keinmal gegangen, hast keinmal gegessen, keinmal gebetet. Eigentlich, so bitter das ist, hast du überhaupt nicht gelebt. Du hast vielleicht auf Autopilot dahinvegetiert, während du dir eingeredet hast, daß sich so das pralle Leben anfühlt. Schneller, höher, weiter, größer, vor allem aber mehr, mehr, mehr. Mehr Geld, mehr Besitz, mehr Raum, mehr Erlebnisse, mehr Events, mehr Freunde, mehr Follower. All dieses Mehr hat zu einer Komplexität geführt, die wir mit Lebenszeit bezahlen, genauso wie mit zwangsläufiger Oberflächlichkeit.
Die Einfachheit ist eine große Befreiung, ein unfaßbar wertvolles Geschenk.
Schaffe ich mir ein neues Auto an, muß ich lange arbeiten, um den Kaufpreis aufzubringen. Ich muß mich um seinen technischen Zustand kümmern, muß es reparieren, waschen, pflegen, auftanken, durch den TÜV bringen, Steuern und Versicherung zahlen. Ich sorge mich, ob es draußen auf der Straße beschädigt oder gestohlen wird. Wenn ich stattdessen am Carsharing teilnehme, fällt all das einfach weg.
Kaufe ich mir ein Haus oder eine große Wohnung, potenziert sich der Aufwand. Mir genügen ein oder zwei Zimmer. Ich komme nicht in Versuchung, unnötiges Zeug anzusammeln. Es ist dafür schlicht kein Platz. Ich muß weniger staubwischen, weniger pflegen und reparieren.
Ich muß auch nicht mehr von einem komplexen Kulturevent zum nächsten rennen, um danach pseudointellektuelle Diskussionen darüber führen zu können.
In fast allen Bereichen menschlicher Existenz schlummert ein riesiges Komplexitätseinsparungspotential. Ich muß lachen, daß ich hier automatisch in den Duktus all derer verfalle, die sich eine goldene Nase daran verdienen, uns teures und unter dem Strich zeitverschwendendes Zeugs als zeitsparend zu verkaufen. So oft ist uns dieses Denken und dieses Vokabular vorgebetet worden, daß es in Fleisch und Blut übergegangen ist und nur seltenst noch hinterfragt wird.
Überraschenderweise ist der Bereich mit dem größten und lohnendsten Sparpotential jener der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie oft sind sie nicht komplex, schwierig, unvorhersehbar, gar dramatisch.
Wir müssen dieses Drama ungemein lieben, denn es wäre so einfach, hier Frieden und Einfachheit einziehen zu lassen.
Wie das zu erreichen wäre? Ganz einfach. Sage immer die Wahrheit, selbst wenn du nicht danach gefragt wirst. Sage die Wahrheit über das, was geschehen ist, über das, was du denkst, und über das, was du fühlst.
Und wie von Zauberhand lösen sich alles Drama, alle komplexen Verwicklungen und Schwierigkeiten auf in stille, friedliche Einfachheit.
Text und Photographie: Jo Titze